Einleitung
Das Berliner Monitoring queerfeindliche Gewalt beobachtet Vorkommen und Erscheinungsformen von LSBTIQ+-Feindlichkeit in Berlin in einem fortlaufenden sozialwissenschaftlichen Verfahren. Es zielt auf eine Verbesserung der Datenlage und die Sensibilisierung der Stadtgesellschaft. Durchgeführt im Auftrag der Berliner Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung soll es auch eine Grundlage für die bedarfsgerechte Weiterentwicklung von Beratungs- und Unterstützungsangeboten bieten.
Der dritte Monitoringbericht, erschienen im Dezember 2024, führt die Berichterstattung auf Grundlage amtlicher und zivilgesellschaftlicher Daten fort. Wie bereits in früheren Ausgaben werden vorfallsbezogene Daten aus der polizeilichen Statistik zu politisch motivierter Kriminalität, Verfahrensdaten der Staatsanwaltschaft sowie Statistiken von zivilgesellschaftlichen Meldestellen ausgewertet. Zudem beinhaltet der Bericht einen Themenschwerpunkt „Bi+-Feindlichkeit“, der mit einer multimethodischen Studie die Betroffenheit von Bi+-Personen durch Diskriminierung und Gewalt untersucht und Strategien im Umgang mit solchen Erlebnissen auf individueller und kollektiver Ebene beschreibt. Weitere Themen, die im Rahmen von Analysen und Gastbeiträgen untersucht werden, sind Übergriffe auf Einrichtungen der queeren Community und orchestrierte Transfeindlichkeit. Ein Service-Teil informiert über Anlaufstellen und Angebote in Berlin und darüber hinaus.
Steigende Fallzahlen, konstante Muster der Bedrohung? Queerfeindliche Hasskriminalität im Fokus der Polizei Berlin
Queerfeindliche Straftaten in staatsanwaltschaftlicher Bearbeitung
Angriffe auf Einrichtungen der LSBTIQ+-Community. Neue Bedrohungen für die Zivilgesellschaft?
Wachsende LSBTIQ+-Feindlichkeit in Berlin? Perspektiven der Berliner Register
Erfahrung und Bewältigung von bi+-feindlicher Diskriminierung und Gewalt
Verbreitung und Dunkelfeld bi+-Feindlicher Diskriminierung und Gewalt in Berlin
Ist Berlin die Regenbogenhauptstadt eines Regenbogenlandes? LSBTIQ+-Feindlichkeit in Deutschland im europäischen Vergleich
Steigende Fallzahlen, konstante Muster der Bedrohung? Queerfeindliche Hasskriminalität im Fokus der Polizei Berlin
Der Trend kontinuierlich ansteigender Fallzahlen queerfeindlicher Straftaten und Gewalt hält weitgehend ungebrochen an. Die Zahl der polizeilich erfassten Straftaten erreicht mit 588 Fällen1 im Jahr 2023 einen nie dagewesenen Höchststand.
- Die Zahl queerfeindlicher Straftaten in Berlin erreichte mit 588 Vorfällen im Jahr 2023 einen neuen Höchststand. Auch die Zahl der Gewaltdelikte ist zuletzt angestiegen und lag 2022 mit 148 Gewalttaten höher als je zuvor, 2023 mit 127 Fällen weiterhin auf einem deutlich erhöhten Niveau.
- Der Anteil der queerfeindlichen Straftaten aus Berlin am Fallaufkommen im Bundesgebiet war traditionell sehr hoch. Dieser relative Anteil nimmt allerdings allmählich ab, weil das Berliner Beispiel Schule gemacht hat und auch andere Bundesländer zunehmend Fälle erfassen.
Im 2022 neu eingeführten Unterthemenfeld „geschlechtsbezogene Diversität“ werden bereits erhebliche Fallzahlen erfasst, was die Weiterentwicklung des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes im Blick auf Trans*feindlichkeit rückblickend rechtfertigt. Anhaltend sind Beleidigungen, Körperverletzungen und Volksverhetzungen im Feld queerfeindlicher Straftaten besonders weit verbreitete Delikte. Anhaltend sind auch innerstädtische Quartiere mit einem lebendigen queeren Leben und hier insbesondere der öffentliche Raum sowie der öffentliche Nahverkehr besonders häufige Tatorte. Ungefähr ein Fünftel der Fälle steht mit dem digitalen Raum in Verbindung.
- Im erst 2022 neu in den Kriminalpolizeilichen Meldedienst Politisch motivierte Kriminalität eingeführten Unterthemenfeld „Geschlechtsbezogene Diversität“ werden mittlerweile erheblich Fallzahlen erfasst, im Jahr 2023 bereits 175 Fälle. Dieses Fallaufkommen und die besonders starken Zuwächse im Vorjahresvergleich (+ 53,5 %) verweisen auf den besonderen Stellenwert von trans*feindlichen Straftaten.
- Beleidigungen (45,4 %), (gefährliche) Körperverletzungen (21,0 %) sowie Volksverhetzung (7,1 %) gehören auch 2023 zu den am häufigsten begangenen queerfeindlichen Straftaten.
- In den innerstädtischen Bezirken mit hoher Nutzungsdichte (Mitte, Tempelhof-Schöneberg, Friedrichshain-Kreuzberg sowie Charlottenburg-Wilmersdorf) werden durch die Polizei konstant die meisten queerfeindlichen Straftaten registriert. Der starke Zusammenhang zwischen der Sichtbarkeit queeren Lebens und dem Aufkommen von Gewalt erweist sich insofern weiterhin als stabil.
- Die Hälfte der erfassten queerfeindlichen Straftaten spielten sich 2023 im öffentlichen Raum (44,6 %) und ÖPNV (11,2 %) ab. Allerdings fungieren auch stärker geschlossene Örtlichkeiten wie Wohngebäude (20,7 %), Freizeiteinrichtungen/Geschäfte/Gastronomie (9,9 %) oder Bildungseinrichtungen (3,9 %) oftmals als Tatorte. Knapp ein Fünftel der polizeilich erfassten Fälle (17,9 %) stellt sich als Online-Delikt unter Verwendung des sog. „Tatmittels Internet“ dar.
- Queerfeindliche Straftaten kommen an allen Wochentagen vor. Das lebendige Berliner Nachtleben an Wochenenden ist allerdings in den letzten Jahren in der Regel von einem deutlich erhöhten Aufkommen queerfeindlicher Straftaten geprägt.
Sehr auffällig ist der sehr hohe Anteil von männlichen Tatverdächtigen bei queerfeindlichen Straftaten, vor allem bei Gewaltdelikten (2023 bei 92,4 %). Tatverdächtige kommen dabei aus allen Altersgruppen, gehören aber besonders häufig den mittleren Jahrgängen von 30 bis 39 Jahren an. Queerfeindliche Straftaten werden oftmals spontan von Einzelpersonen und eingebettet in Alltagsvollzüge des urbanen Lebens verübt.
- Die polizeilich ermittelten Tatverdächtigen sind fast ausnahmslos männlich, insbesondere bei Gewaltdelikten. Queerfeindliche Straftaten sind dabei keineswegs ein Phänomen der Jugenddelinquenz. Das Alter der Tatverdächtigen verteilt sich auf die gesamte Altersspanne von Minderjährigen unter 18 Jahren (12,7 %) bis zu über 60-Jährigen (12,1 %), die Altersgruppe zwischen 30 und 39 Jahren wird am stärksten auffällig (21,7 %).
- Queerfeindliche Taten werden oftmals situationsgebunden aus der Normalität von Alltagsvollzügen heraus von Einzelpersonen verübt (58,5 %). Stärker koordinierte, gemeinschaftlich verübte Taten kommen vor, sie bilden aber nicht den kennzeichnenden Phänotyp entsprechender Vorfälle in Berlin.
- Viele der ermittelten Tatverdächtigten sind nicht das erste Mal polizeilich auffällig geworden – zur großen Mehrheit (78,0 %) verfügt die Polizei vielmehr über Vorerkenntnisse zu den ermittelten Personen. Oftmals handelt es sich dabei um Vorerkenntnisse aus dem Bereich der Allgemeinkriminalität (47,1 %), bei fast einem Drittel aller Tatverdächtigen (30,9 %) aber auch oder ausschließlich um Vorerkenntnisse aus dem Bereich der Staatsschutzkriminalität, zu dem politisch motivierte Straftaten gehören.
Insbesondere queerfeindliche Gewalttaten richten sich sehr mehrheitlich gegen sog. Zufallsopfer, zu denen also zuvor keinerlei persönliche Beziehung bestand. Unter den Geschädigten – wenn auch in etwas geringerem Ausmaß als unter den Tatverdächtigen – sind männliche Personen besonders häufig vertreten. Derzeit verändert sich die Verteilung von männlichen und weiblichen Personen kaum, auf quantitativ niedrigem Niveau steigt allerdings der Anteil von als divers ausgewiesenen Geschädigten kontinuierlich an.
- Geschädigte von queerfeindlicher Gewalt werden durch die Polizei mehrheitlich als sog. „Zufallsopfer“ erfasst. Das bedeutet, dass keine Vorbeziehung zwischen tatverdächtiger und geschädigter Person bestand, dass sich die Tat also zwischen Unbekannten abspielte. Ein umgekehrtes Muster findet sich bei Straftaten, die nicht den Gewaltdelikten zugerechnet werden. Hier zeigt sich eine gezielte Auswahl der Geschädigten, u.a. bedingt durch Straftaten, die sich gegen sog. „Angriffsziele“ aus den Bereichen „Polizei, Staat und Parteien“ oder „Religionsgemeinschaften“ richten.
- Männliche Personen sind unter den durch die Polizei erfassten Geschädigten von queerfeindlichen Straftaten überproportional häufig vertreten. Ihr Anteil lag in den letzten Jahren zum Teil deutlich über siebzig Prozent, im Jahr 2023 bei 71,3 %. Der Anteil weiblicher Geschädigter ist demgegenüber deutlich geringer, er lag im Jahr 2023 bei 23,6 %. Der Anteil der durch queerfeindliche Straftaten geschädigten diversgeschlechtlichen Personen ist relativ gering, in den letzten Jahren allerdings kontinuierlich gestiegen, von 1,3 % im Jahr 2021 über 2,0 % im Jahr 2022 auf 3,3 % im Jahr 2023. Besonders häufig werden Personen im Alter zwischen 21 und unter 40 Jahren als Geschädigte registriert.
Queerfeindliche Straftaten in staatsanwaltschaftlicher Bearbeitung
Die Staatsanwaltschaft Berlin hat 2023 mehr Straftaten gegen die sexuelle Orientierung erfasst und bearbeitet als jemals zuvor, in diesem Jahr sind allein 791 Verfahren neu eingegangen. Die Zahl der eingehenden queerfeindlichen Straftaten zeigt in den vergangenen Jahren also einen eindeutig aufsteigenden Trend, der sich allerdings nicht gleichmäßig, sondern stufenförmig ausprägt.
- Im Jahr 2023 wurde mit 791 eingegangenen Verfahren ein Höchstwert seit Beginn der staatsanwaltschaftlichen Erfassung von Straftaten gegen die sexuelle Orientierung im Jahr 2018 verzeichnet. Gegenüber den 603 Verfahrenseingängen im Vorjahr 2022 bedeutet dieser Wert einen Anstieg um 31,2 %.
- Insgesamt zeigt die Entwicklung der staatsanwaltschaftlichen Verfahrenszahlen in den vergangenen Jahren ein stufen- und treppenförmiges Muster, in dem sich Phasen des Anstiegs der Verfahrenszahlen mit solchen der Konstanz abwechseln – bei insgesamt deutlich ansteigender Tendenz.
- Seit Beginn der Erfassung handelt es sich bei der Mehrheit der staatsanwaltschaftlichen Verfahren um sog Js-Verfahren (Bekannt-Sachen), bei denen individuelle Beschuldigte ermittelt wurden und entsprechend bekannt sind. Dennoch sind in vielen Fällen Beschuldigte auch unbekannt. Im Jahr 2023 standen 437 Bekannt-Sachen 354 Unbekannt-Sachen gegenüber.
Die Staatsanwaltschaft bearbeitet zahlreiche queerfeindliche Beleidigungen (41,7 % aller Fälle), aber in erheblichem Umfang auch Körperverletzungsdelikte (2022: 29,4 %, 2023: 19,8 %) und Bedrohungen (11,9 %)
- Beleidigungen sind als jeweils schwerste Delikt innerhalb eines Verfahrens (Zähldelikt oder führendes Delikt) mit einem Anteil von über 40 % aller Verfahren besonders verbreitet (2022: 41,3 %; 2023: 41,7 %).
- Queerfeindliche Straftaten beschränken sich im Blick der Staatsanwaltschaft allerdings keinesfalls auf Äußerungsdelikte. Auch Gewalttaten kommen in erheblichem Maße vor. Einfache Körperverletzungen (§ 223 StGB) und gefährliche Körperverletzungen (§ 224 StGB) beschäftigten im Jahr 2022 zusammengenommen 29,4 % der Verfahren – dies entspricht einer Anzahl von 177 Körperverletzungen. Im Jahr 2023 liegt deren Anteil mit einer Gesamtanzahl von 157 Verfahren bei 19,8 %. Einfache Körperverletzungen machen im Jahr 2023 dabei 10,7 % aus, gefährliche Körperverletzungen weitere 9,1 %.
Die Beschuldigten für queerfeindliche Straftaten sind weit überwiegend männliche Erwachsene im Alter bis 40 Jahre. Dieses Muster zeigt sich etwas weniger ausgeprägt auch bei den Geschädigten, von denen der Staatsanwaltschaft in den Jahren 2022 und 2023 zusammen 1.730 Personen bekannt geworden sind. Sie waren ebenfalls überwiegend männlich und mehrheitlich bis 40 Jahre alt.
- Insgesamt wurde 2022 und 2023 zusammengenommen gegen 929 Beschuldigte ermittelt, welche überwiegend männlich (85,3 %) und erwachsen (72,8 %) waren. Sie gehörten vor allem den Altersgruppen bis 40 Jahren an. Junge Männer sind damit die idealtypischen Verursacher von durch die Staatsanwaltschaft verfolgte Straftaten gegen die sexuelle Orientierung.
- In den letzten zwei Jahren wurden 1.730 Geschädigte gezählt. Diese sind ebenfalls oft männlich (66,3 %) und häufig zwischen 21 und 30 Jahren (30,4 %).
- Verfahren gegen Unbekannt wurde nach Abschluss der Ermittlungen meist eingestellt (82,2 %). Verfahren, in denen beschuldigte Personen bekannt waren, wurden zu 40,7 % eingestellt und zu 13,2 % an ein anderes Dezernat oder eine andere Staatsanwaltschaft abgegeben. In 16,4 % der Verfahren wurde ein Strafbefehl beantragt, in 13,5 % wurde mit einem anderen Verfahren verbunden und bei etwas mehr als 100 Verfahren (14,1 %) konnte die Staatsanwaltschaft Berlin Anklage gegen die beschuldigte Person erheben.
Angriffe auf Einrichtungen der LSBTIQ+-Community. Neue Bedrohungen für die Zivilgesellschaft?
Neben Übergriffen auf Einzelpersonen sind Angriffe auf queere Einrichtungen und Orte – auf Clubs und Cafés, auf Bildungsorte und Beratungsstellen, auf Veranstaltungen, Feste und Paraden – eine weitere Erscheinungsform queerfeindlicher Gewalt in Berlin. Eine systematische Dokumentation besteht nicht, Befragungen zeigen aber, dass viele Einrichtungen auf unterschiedlichem Eskalationsniveau Erfahrung mit solchen Übergriffen gemacht haben. Sie reichen von „Scherz-“ und Drohanrufen bis zu Sachbeschädigungen und Anschlägen. Die Bewältigung solcher Übergriffe kann eine erhebliche Mehrbelastung für die Einrichtungen bedeuten und auch finanzielle Schäden und Verluste verursachen.
- Queere Einrichtungen berichten von homophoben Beschimpfungen durch Telefonanrufe und Nachrichten. Im Umgang mit Mikroangriffen dienen oftmals individuelle Filterungen und Selektionen als Schutzmechanismus. In Anbetracht des damit verbundenen Aufwands gibt es mitunter Vorbehalte gegen das Erstatten polizeilicher Anzeigen.
- Hasskampagnen stellen für die Berliner Einrichtungen eine „Taktik der Zermürbung“ dar, die gezielt deren finanzielle Förderung angreift. Die gezielten Angriffe sowohl im medialen als auch öffentlichen Raum führen zu Verunsicherungen unter Beschäftigten und aufgrund des erforderlichen „Shitstorm-Management“ zu einer spürbaren Mehrbelastung.
- Mehrfache Sachbeschädigungen bis hin zu schweren Anschlägen ergeben einen gravierenden Einschnitt in das subjektive Sicherheitsempfinden für die betroffenen Einrichtungen. Sie fordern eine emotionale Betreuung der Beschäftigten und bedeuten einen finanziellen sowie zeitlichen Mehraufwand für die Erstellung von Sicherheitskonzepten und deren Umsetzung.
- Für Mitarbeiter*innen kann die Exponiertheit queerer Einrichtungen im räumlichen Umfeld mit einem erhöhten Risiko für Übergriffe gegen sie einhergehen. Die Erfahrung von Gewalt am Arbeitsplatz erfordert neben der emotionalen Betreuung den Einsatz von doppelt besetzten Schichten, die zusätzliche Kosten erzeugen.
In Berlin bestehen verschiedene Fonds und Unterstützungsangebote für von Hassgewalt betroffene Einrichtungen. Zugleich können communitybasierter Support und nachbarschaftliche Solidarität die Bedürfnisse betroffener Einrichtungen oftmals besonders lebensweltnah bedienen. Niedrigschwellige Beratungs- und Begleitungsangebote und Unterstützung bei der Entwicklung ganzheitlicher Schutzkonzepte bleiben wichtige Erfordernisse.
- Um Barrieren zur Beantragung finanzieller Hilfen oder zur Aufnahme rechtlicher Auseinandersetzungen zu überwinden, ist oftmals die konkrete Dokumentation von Nachrichten mit LSBTIQ+-feindlichen Inhalten (z.B. Screenshots) erforderlich.
- Die Erfahrungen mit der Polizei Berlin sind unterschiedlich: Es ist aus Sicht der Einrichtungen hilfreich, Telefonnummern der direkten Ansprechpartner*innen parat zu haben oder die Möglichkeit der Online-Anzeige zu nutzen.
- Die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus unterstützt queere Einrichtungen bei der Erstellung von spezifischen, an den jeweiligen Gegebenheiten ausgerichteten Schutz- und Sicherheitskonzepten. Diese umfassen Verhaltens- als auch bauliche Maßnahmen.
- Maßnahmen zum Schutz der Einrichtung und von Beschäftigten sind z.B. die Vermeidung von Sichtbarkeit im digitalen Raum durch Klarnamen, eine Adresssperre nach § 51 des Bundesmeldegesetzes (BMG), der Einbau von Kameras und Sicherheitsglas, aber auch selbstorganisierte gemeinsame Heimfahrten und doppelt besetzte Schichten.
- Folgende finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten existieren:
1. CURA Opferfonds bei materiellen Schäden,
2. Kooperationsprojekt Gegenrechtsschutz für Anwalts- und Prozesskosten,
3. Fonds zur Unterstützung von Betroffenen politisch-extremistischer Gewalt (Handlungsfeld Opferschutz) für bauliche Sicherungsmaßnahmen. - Solidarisierungskampagnen und nachbarschaftliche Unterstützung stellen einen wichtigen Beitrag für die Bewältigung von gezielten Sachbeschädigungen, schweren Angriffen und physischer Gewalt gegenüber Beschäftigten dar.
Wachsende LSBTIQ+-Feindlichkeit in Berlin? Perspektiven der Berliner Register
Ergänzend zu amtlichen Daten bieten Dokumentationen zivilgesellschaftlicher Einrichtungen unentbehrliche Quellen zur Bewertung queerfeindlicher Gewalt in Berlin. Zivilgesellschaftliche Einrichtungen erfassen und dokumentieren bisher aber nicht abgestimmt und nach einheitlichen Kriterien. Die Berliner Register beziehen allerdings neben eigenen Rechercheergebnissen auch Informationen anderer, auch queerer Einrichtungen in ihre Berichterstattung ein und haben zunehmend Expertise im Themenfeld entwickelt. Die durch die Register erfassten queerfeindlichen Vorfälle erreichen mit 466 Vorfällen im Jahr 2023 einen Höchststand. Queerfeindliche Vorfälle erweisen sich im Blick der Register als schwerwiegender als Vorfälle aus anderen Phänomenbereichen, oft handelt es sich um sog. „Angriffe“.
- Die durch die Berliner Register erfassten LGBTIQ-feindlichen Vorfälle erreichen nach starken Anstiegen in den Vorjahren 2023 einen präzedenzlosen Spitzenwert. Aus dem Jahr 2023 sind allein 466 Vorfälle dokumentiert.
- Die erfassten LGBTIQ-feindlichen Vorfälle unterscheiden sich in ihrer Art von den sonstigen durch die Register erfassten Vorfällen. Sie sind zumeist deutlich schwerwiegender: Bei 40,5 % der Vorfälle handelt es sich um Angriffe, bei weiteren 26,2 % um Bedrohungen, Beleidigungen oder Pöbeleien.
Die zivilgesellschaftlichen Daten der Register unterstützen verschiedene Aspekte der polizeilichen Lagebilder. Queerfeindliche Gewalt folgt auch im Blick der Register öffentlich sichtbarem queerem Leben in der Stadt und häuft sich daher deutlich einerseits zu bestimmten Zeiten, andererseits in bestimmten Regionen – insbesondere in innerstädtischen Quartieren des Westens Berlin. Männliche Personen sind oftmals Täter. Sie sind aber auch unter den Betroffene, die Vorfälle melden, häufig vertreten.
- LGBTIQ*-feindliche Vorfälle sind deutlich stärker als die insgesamt durch die Register dokumentierten Vorfälle mit Sichtbarkeit und aktivem Leben im öffentlichen Raum verbunden: Sie werden verstärkt in den Sommermonaten, an Wochenenden und in den späteren Abendstunden verübt. Das ist bei anderen Vorfällen nicht oder nicht so ausgeprägt der Fall.
- Obwohl LGBTIQ*-feindliche Vorfälle allerorten vorkommen, konzentrieren sie sich stärker als andere Vorfälle in bestimmten Regionen. Auffällig sind erhöhte Vorfallszahlen in einer überschaubaren Gruppe innerstädtischer Regionen (Bezirke, Ortsteile) im westlichen Teil der Stadt.
- Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln sind stärker belastete Bezirke. Neukölln-Nord, der Ortsteil Mitte und Schöneberg Nord sind die am stärksten belasteten Ortsteile.
- Männer stellen den allergrößten Teil (88 %) der Täterinnen LGBTIQ-feindlicher Vorfälle, sind aber auch unter den Betroffenen in erhöhtem Maße vertreten. Frauen machen nur einen kleinen Teil der Täterinnen aus, aber nahezu ein Viertel der Betroffenen. Diverse und nichtbinäre Personen stellen einen relevanten Teil der Betroffenen, sind unter den Täterinnen aber nahezu nicht vertreten.
Erfahrung und Bewältigung von bi+-feindlicher Diskriminierung und Gewalt
Bi+-Personen bilden eine große Gruppe im Regenbogenspektrum. Ihre Identitäten, Orientierungen und Erfahrungen werden aber immer noch oft übersehen. Verleugnung auf der einen und Abwertung auf der anderen Seite bilden damit das Doppelgesicht von Bi+-Feindlichkeit in Berlin. Erfahrungen mit Diskriminierung und Gewalt machen Bi+-Personen in allen Bereichen der Gesellschaft, auch in den queeren Communitys. Spezifisch bi+-feindliche Erscheinungsformen können sich dabei mit anderen Formen von Queerfeindlichkeit verbinden, etwa wenn Bi+-Personen in gleichgeschlechtlichen Bezidhungen leben und auch von Schwulen- oder Lesbenfeindlichkeit betroffen sind
- Gewalt gegen Bi+-Personen kann über die Konzepte Biphobie, Bi+-Feindlichkeit und institutionalisierte Monosexualität erschlossen werden, die wichtige Aspekte des Erlebens der interviewten Personen widerspiegeln.
- Unsichtbarkeit und Verleugnung auf der einen, Stigmatisierung und negative Stereotypisierung auf der anderen Seite verbinden und verdichten sich als zentrales Charakteristikum von Bi+-Feindlichkeit.
- Die Verortung von Bi+-Feindlichkeit in queeren Communitys und – als Internalisierung – auch in Bi+-Personen selbst prägt das Verständnis und Erleben betroffener Personen zusätzlich.
- Bi+-Erasure, also das Erleben von Dethematisierung, Verleugnung, Ignorierung, Umdeutung und Unsichtbarkeit von Bi+-Identität, ist prägender Aspekt des Erlebens von Bi+-Feindlichkeit.
Bi+-Feindlichkeit hat verschiedene Gesichter und Erscheinungsformen: Neben Verleugnungen und Verkennungen kommen Beleidigungen und Übergriffe ebenso vor wie Projektionen und Zuschreibungen als promisk und hypersexualisiert, mit denen vor allem weiblich gelesene Bi+-Personen oft konfrontiert werden. Internalisierte Bi+-Feindlichkeit, also die eigene Übernahme stigmatisierender Muster, und damit verbundene Selbstzweifel an der eigenen Orientierung (Impostor-Syndrom) beschäftigen Bi+-Personen ebenfalls. Besonders schmerzhaft im Blick auf Erwartungen von Zugehörigkeit und sicheren Orten sind Erfahrungen von Bi+-Feindlichkeit in queeren Communitys.
- Bi+-Feindlichkeit äußert sich auf vielfältige Weise und wird etwa in Form von Bi-Erasure, Hypersexualisierung und sexualisierter Gewalt, Beleidigungen und Anfeindungen, körperlichen Übergriffen sowie als internalisierte Bi+-Feindlichkeit erlebt.
- (Über-)Sexualisierung insbesondere von weiblicher Bi+-Sexualität ist weit verbreitet und steht im Zusammenhang mit hohen Raten der Betroffenheit von sexueller Gewalt bei Bi+-Personen.
- Beleidigungen und Anfeindungen, insbesondere in der Öffentlichkeit, werden von vielen Bi+-Personen erlebt und es wird ein zuletzt zunehmender Trend geschildert. Während dabei häufig auch andere queerfeindliche Motive im Vordergrund stehen, gibt es aber auch Vorfälle, die sich klar auf die erkennbare Bi+-Identität der Betroffenen beziehen.
- Physische Angriffe gehören ebenso zum Erleben von Bi+-Feindlichkeit, wenn auch weniger häufig als etwa bei Trans*-Feindlichkeit. Betroffene beobachten eine Verunsicherung im Verhalten anderer Menschen, die etwa durch ein Coming-out ausgelöst werden kann und möglicherweise zu einer erhöhten Gewaltneigung beiträgt.
- Die Internalisierung bi+-feindlicher Denkfiguren und Stereotype äußert sich zum Beispiel darin, dass Bi+-Personen ihre eigene sowie die Identität anderer Bi+-Personen auch selbst in Frage stellen und Wahrnehmungsmuster verinnerlichen, die zu Bi+-Erasure beitragen.
- Bi+-Feindlichkeit wird im Rahmen der für die Studie geführten Interviews in verschiedenen Kontexten thematisiert, dabei stehen queere bzw. LSBTIQ+-Communitys, öffentliche Räume und der Personennahverkehr, persönliche Nahbeziehungen und Dating sowie medizinische und therapeutische Kontexte im Vordergrund.
- Viele Berichte beziehen sich auf Bi+-Feindlichkeit in queeren Communitys. Erfahrungen mit Bi+-Erasure, Diskriminierungen und Gewalt in solchen Kontexten können von Bi+-Personen als besonders einschneidend empfunden werden und zum Rückzug aus queeren Räumen führen.
Kontexte der Erfahrung von Bi+-Feindlichkeit sind vielfältig, betreffen den öffentlichen Raum, begrenzen sich aber keinesfalls auf diesen. Auch intime und private Situationen wie beispielsweise Dating oder romantische Beziehungen sowie die Nutzung von psychotherapeutischen Angeboten können als bi+-feindlich erfahren werden. Abwertungserfahrungen beeinträchtigen die persönliche Entwicklung und das individuelle Wohlbefinden und können ein selbstbestimmtes Coming-Out verzögern. Queere Beratungs- und Unterstützungsstellen in Berlin sind in der Community gut bekannt und werden genutzt. Selbsthilfegruppen und Aktivismus sind allerdings oftmals erstrangige Quellen von Unterstützung und Bestärkung.
- Öffentliche Räume und der Personennahverkehr sind auch für Bi+-Personen Orte von Übergriffen wie Anfeindungen, Beleidigungen und physischer Gewalt und folglich eines häufig eingeschränkten Sicherheitsempfindens. Betroffene schätzen die Motivation von Angriffen auf sie sowohl als bi+-feindlich als auch allgemein queerfeindlich ein.
- Im Kontext von Dating und romantischen Beziehungen erleben Bi+-Personen im Zusammenhang mit Coming-outs sowie anderen Thematisierungen ihrer Identität Zurückweisungen, Stigmatisierungen und auch körperliche Gewalt, die sie teilweise auf eine tiefgreifende Verunsicherung bei ihrem jeweiligen Gegenüber zurückführen.
- Erfahrungen mit Bi+-Erasure im Kontext von Psychotherapie werden ebenfalls berichtet, Vorurteile und mangelnde Sensibilisierung bei Therapeut*innen erschweren den Betroffenen den Zugang zu fachgerechter therapeutischer Behandlung.
- Erfahrungen mit Bi+-Feindlichkeit führen dazu, dass ein offener und selbstbewusster Umgang mit der eigenen Bi+-Identität erschwert wird, Coming-outs erfolgen oft spät und sind von komplexen Emotionen und Abwägungen begleitet. Die Mehrheit der interviewten Personen hat das Gefühl, dass sie mit einer selbstbewussten Selbstpositionierung als Bi+ auch besser mit bi+-feindlichen Vorfällen und Übergriffen umgehen können.
- Aktivismus und Supportgruppen sind wichtige Faktoren, die Bi+-Personen im Umgang mit Diskriminierung und Gewalt unterstützen und ihre sozialen und psychischen Ressourcen stärken können. Dabei spielen informelle Zusammenhänge und Gesprächsgruppen on- und offline eine wichtige Rolle, die viele Betroffene in unterschiedlichen Phasen ihrer Biografie genutzt haben.
- Das Berliner Netzwerk zivilgesellschaftlicher Melde- und Beratungsstellen ist gut bekannt und viele haben ihre Angebote bereits genutzt. Eine Anlaufstelle, die aus der Bi+-Community kommt und die spezifischen Themen sowie Bedarfe von Bi+-Personen kennt, war dabei für viele bisher ein Desiderat. Auf die Polizei gibt es unter Bi+-Personen, wie auch in der queeren Community insgesamt, unterschiedliche Perspektiven.
Verbreitung und Dunkelfeld bi+-Feindlicher Diskriminierung und Gewalt in Berlin
Die vorliegende Ausgabe des Monitorings queerfeindliche Gewalt umfasst eine standardisierte Befragung von Bi+-Personen zu Erfahrungen von Diskriminierung und Gewalt in Berlin. Die meisten Befragten haben ihren Lebensmittelpunkt in Berlin, der Altersdurchschnitt der Befragten ist zugleich niedriger als derjenige der Berliner Gesamtbevölkerung. Der Bildungsgrad war höher als in Berlin insgesamt, der Anteil von Befragten die sich als cis-männlich verstehen, relativ niedrig.
- Der weitaus größte Teil der Befragten (91,2 %) hat seinen Lebensmittelpunkt in Berlin, nur wenige Personen kommen aus anderen Großstädten, noch weniger aus Kleinstädten oder ländlichen Räumen.
- Die Stichprobe der Teilnehmenden ist im Durchschnitt jünger als die Berliner Gesamtbevölkerung. Nahezu zwei Drittel (64,0 %) der Befragten sind unter 35 Jahre alt, in der Berliner Bevölkerung beläuft sich deren Anteil auf ungefähr 40 %. Da sich an der Befragung keine Kinder oder Jugendlichen beteiligt haben, ist die Diskrepanz zur Gesamtbevölkerung vor allem in der Altersgruppe der 18 bis unter 35-Jährigen deutlich ausgeprägt.
- Die Befragten verfügen durchschnittlich über einen merklich höheren formalen Bildungsgrad als die Berliner Wohnbevölkerung insgesamt. Vier Fünftel der Befragten (80,8 %) verfügen über die Hochschulreife oder einen Hochschulabschluss, in Berlin beläuft sich deren Anteil ungefähr auf die Hälfte der Wohnbevölkerung.
- Hinsichtlich der Geschlechtsidentität haben sich zwei Fünftel der Befragten (43,1 %) als cis-weiblich definiert, jeweils ca. ein Viertel als nichtbinär (26,7 %) oder queer (24,1 %). Nur ein kleiner Teil der Befragten definiert sich als cis-männlich (16,4 %). Mehrfachzugehörigkeiten waren dabei ausdrücklich zugelassen.
- Die meisten Befragten, vier Fünftel (80,0 %) bezeichnen sich hinsichtlich ihrer sexuellen Orientierung als bisexuell, erhebliche Teile aber auch als queer (44,0 %) oder pansexuell (33,6 %). Mehrfachangaben waren zugelassen.
Bi+-Personen schätzen an Berlin die vergleichsweise großen Möglichkeiten eines offenen Selbstausdrucks. Die Freiheitsspielräume variieren aber stark zwischen sozialen Bereichen, werden insbesondere im privaten Umfeld und in den queeren Communitys verortet. Viele Bi+-Personen nehmen an, dass Sie auch von außen als queer gelesen werden und daher auch den damit oft verbundenen Risiken ausgesetzt sind. Obwohl Bi+-Personen sich auch in queeren Zusammenhängen nicht immer vollständig anerkannt sehen, nehmen diese Strukturen einen hohen Stellenwert in ihrer Lebensgestaltung ein, auch in Form eigenen Engagements.
- Berlin bietet vielen Bi+-Personen Möglichkeiten eines offenen Umgangs mit ihrer sexuellen Orientierung. Mehr als vier Fünftel der Befragten (83,2 %) leben völlig oder weitgehend offen. Dem Selbstverständnis Berlins als Regenbogenhauptstadt korrespondiert an dieser Stelle eine greifbare empirische Realität.
- Offenheit und Bekanntheit der eigenen Bi+-Identität variieren stark nach Lebensbereich. Enge Freundes- und Familienkreise oder queere Orte bieten für viele erhebliche Freiheitsspielräume des Selbstausdrucks. Am Arbeitsplatz, im (Aus-)bildungsbereich, der Freizeit oder in der Nachbarschaft geben sich viele Bi+-Personen aber weniger offen zu erkennen.
- Viele Befragte gehen davon aus, dass Sie auch von außen als queer zu erkennen sind: Für mehr als ein Viertel der Befragten (28 %) ist das nahezu ausnahmslos der Fall, im Umfang daher ähnlich stark wie bei trans* Personen. Damit können die mit queerer Sichtbarkeit verbundenen Risiken von Übergriffen, Diskriminierung und Gewalt auch Bi+-Personen treffen.
- Die Verbindungen zu queeren Strukturen sind für viele Bi+-Personen wichtig für Ihre Lebensgestaltung, über die Hälfte (56,8 %) geben einen (sehr) großen Stellenwert an. Ein Drittel (32,8 %) engagiert sich auch selbst oft für Belange von LSBTIQ+ bzw. von Bi+-Personen. Dem verbreiteten Community-Bezug stehen allerdings – insbesondere in den qualitativen Interviews – oftmals auch ambivalente Erfahrungen der Nicht-Anerkennung als bi+ in queeren Communities gegenüber.
Obwohl sich viele Bi+-Personen in Berlin vergleichsweise sicher fühlen, ist die Auseinandersetzung mit der Gefahr queerfeindlicher Übergriffe weit verbreitet – die Hälfte der Befragten setzt sich (sehr) stark damit auseinander. Daher sehen sich viele Bi+-Personen genötigt, ihre Verhaltensweisen anzupassen, durch Vorsicht, Zurückhaltung und unauffälliges Auftreten. Verbreitet sind vor diesem Hintergrund individuelle Gefühle der Nicht-Zugehörigkeit und der Unsichtbarkeit als die Person, die man ist.
- Das subjektive Sicherheitsgefühl vieler Bi+-Personen ist in Berlin insgesamt vergleichsweise positiv. Ungefähr die Hälfte der Befragten fühlt sich in Berlin sehr sicher (8,0 %) oder sicher (40,0 %) vor queerfeindlichen Übergriffen. Deutlich weniger Personen fühlen sich demgegenüber eher nicht sicher (15,2 %) oder gar nicht sicher (6,4 %).
- Die Auseinandersetzung mit der Gefahr von queerfeindlichen Übergriffen ist unter den Befragten jedoch erheblich: Sehr viele Befragte beschäftigt die Möglichkeit von queerfeindlichen Übergriffen sehr stark (14,4 %) oder stark (36,8 %) – zusammengenommen also über die Hälfte der Befragten (51,2 %).
- Befürchtungen vor queerfeindlichen Übergriffen mischen sich dabei mit Befürchtungen vor spezifisch bi+-feindlichen Übergriffen. Letztere sind etwas weniger verbreitet: Ein Drittel der Befragten (34,2 %) beschäftigt sich stark oder sehr stark mit Befürchtungen vor explizit bi+-feindlichen Übergriffen.
- Die Befürchtung von Übergriffen hat verhaltenswirksame Konsequenzen: Fast zwei Drittel der Befragten (63,2 %) beobachten aufmerksam, wer sich in der Umgebung aufhält. Viele sind vorsichtig beim Austausch von Zärtlichkeiten (40,0 %), entscheiden sich für unauffälligere Kleidung (37,6 %) oder verstecken Regenbogen-Accessoires und Erkennungszeichen (36,0 %).
- Unter den negativen Erfahrungen aufgrund des Bi+-Seins sind vor allem Gefühle der Unsichtbarkeit und der Nicht-Zugehörigkeit besonders verbreitet. Zwei Fünftel der Befragten (39,2 %) haben oft oder sehr oft solche Gefühle, fast alle (88,0 %) zumindest selten.
- Im subjektiven Erleben kann sich die Erfahrung von Bi+-Feindlichkeit mit anderen Formen der Diskriminierung überkreuzen. Sehr viele geben insbesondere an, (sehr) oft (45,6 %) oder gelegentlich 25,6 % Sexismus und Misogynie erlebt zu haben.
Zahlreiche Bi+-Personen mussten Erfahrungen mit Übergriffen machen, die Hälfte der Befragten in den zurückliegenden fünf Jahren (51,2 %), weit mehr als ein Drittel (39,2 %) allein in den zurückliegenden zwölf Monaten. Bi+-Personen sind sowohl von queerfeindlichen als auch von bi+-feindlichen Übergriffen betroffen, darunter öfter von allgemein queerfeindlichen Taten. Dazu gehören fast immer abfällige Bemerkungen und Beleidigungen, aber auch Bedrohungen und körperliche Angriffe. Zudem nehmen sexualisierte Anmachen oder Ansprachen einen bedeutenden Stellenwert ein. Der öffentliche Raum ist häufigster Schauplatz von Übergriffen auf Bi+-Personen und wird von fast allen Betroffenen genannt, mehr als die Hälfte der Befragten nennt aber auch den digitalen Raum, eine Minderheit auch queere Orte.
- Die Hälfte der befragten Bi+-Personen (51,2 %) war in den letzten fünf Jahren von queerfeindlichen Übergriffen betroffen, deutlich mehr als ein Drittel (39,2 %) sogar in den zurückliegenden zwölf Monaten.
- Ein Fünftel der Übergriffe (21,9 %) war explizit bi+-feindlich ausgerichtet. Das bedeutet, dass insgesamt ein Zehntel aller Befragten (11,2 %) angeben, in den letzten fünf Jahren von spezifisch bi+-feindlichen Übergriffen betroffen gewesen zu sein.
- Bi+-Personen sind von Übergriffen und Gewalt insofern in zweierlei Form betroffen: Allgemein von queerfeindlichen Übergriffen und von spezifisch bi+-feindlichen Übergriffen. Subjektiv entscheidend ist weniger die spezifische Motivation der Täter, sondern die Betroffenheit als Bi+-Person.
- Von den Befragten, die Übergriffe erfahren haben, werden fast ausnahmslos – zumindest als seltene Erfahrungen – abfällige Bemerkungen, Anstarren und üble Nachrede (95,4 %) sowie Beleidigungen, verbale Bedrohungen oder körperliche Bedrohungen (81,3 %) genannt.
- Die hohe Verbreitung von sexualisierter Anmache unter den von Übergriffen betroffenen Bi+-Personen ist für LSBTIQ+-Feindlichkeit allgemein typisch. Der erhöhte Anteil von Bi+-Personen, die nicht nur selten (28,1 %), sondern (sehr) oft (31,3 %) oder gelegentlich (15,6 %) Erfahrungen sexualisierter Übergriffigkeiten machen, spricht zugleich für ein besonders ausgeprägtes Risiko von Bi+-Personen.
- Der öffentliche Raum (Straßen, Parks, Plätze etc.) (87,6 %) sowie der öffentlichen Nahverkehr (78,1 %) werden von Betroffenen mit Abstand am häufigsten – zumindest selten – als Tatorte genannt. Solche nur wenig strukturierten und formalisierten Settings, gewissermaßen Begegnungen im Vorübergehen, kristallisieren sich damit auch für Bi+-Personen als besonders verbreiteter Kontext für Erfahrungen mit Übergriffen heraus.
- Das Internet und soziale Medien sind neben dem physischen öffentlichen Raum ebenfalls ein relevanter Schauplatz von Übergriffen, der von über der Hälfte der Betroffenen (54,7 %) mindestens selten genannt wird.
- Queere Orte sind sicherlich nicht die prädestinierten Orte von Unsicherheit für Bi+-Personen – dennoch bleibt der nicht unerhebliche Anteil der von Übergriffen Betroffenen zu beachten, die auch dort (sehr) oft (9,4 %) oder gelegentlich (15,6 %) negative Erfahrungen machen mussten, also eine von vier betroffenen Personen.
Betroffene von bi+-feindlichen Übergriffen haben in der Regel eindeutige Belege für feindliche Tatmotivationen, in drei Viertel der Fälle bspw. einschlägige Beschimpfungen. Bi+-Personen werden sowohl durch queerfeindliche wie auch durch spezifisch bi+-feindliche Übergriffe angegriffen. Oftmals verbinden sich queerfeindliche Motive mit weiteren Aspekten – insbesondere mit Sexismus und Misogynie.
- Die von LSBTIQ+-feindlichen oder von bi+-feindlichen Übergriffen betroffenen Personen können weit mehrheitlich anhand klarer Hinweise belegen, dass Vorfälle sie nicht zufällig treffen, sondern aufgrund feindlicher Motive und Einstellungen. Drei Viertel (75 %) der besonders nachhaltig erinnerten Vorfälle waren von LSBTIQ+-feindlichen Beschimpfungen begleitet.
- Übergriffe richten sich gegen Bi+-Personen sowohl aufgrund allgemein LSBTIQ+-feindlicher wie auch spezifisch bi+-feindlicher Motive, beide Aspekte überlagern sich im Alltag nicht selten. Ein Zehntel aller Befragten (11,2 %) gibt entsprechend an, von spezifisch bi+-feindlichen Übergriffen betroffen zu sein, das entspricht einem Fünftel (21,9 %) der von Übergriffen betroffenen Personen. Ungefähr ein doppelt so großer Anteil der befragten Bi+-Personen – nämlich ein Fünftel aller Befragten (20,8 %) und zwei Fünftel der von Übergriffen Betroffenen (40,6 %) – geben demgegenüber an, als lesbisch oder schwul gelesen worden zu sein.
- In fast zwei Drittel aller Vorfälle (62,5 %) spielen nach Eindruck der Betroffenen neben LSBTIQ+-feindlichen Motiven auch andere Aspekte eine motivierende Rolle. Besonders relevant sind dabei sexistische und misogyne Abwertungen, die von der Hälfte der von Übergriffen Betroffenen (51,6 %) genannt werden. Auch andere Aspekte geschlechtlicher Identität werden nicht selten genannt. Weniger verbreitet sind demgegenüber andere Diskriminierungsdimensionen wie Rassismus, Antisemitismus, Klassismus oder Ableismus.
Von Gewalt und Diskriminierung betroffene Bi+-Personen sprechen häufig mit Partner*innen, Freund*innen oder Verwandten über ihre Erfahrungen und stoßen dabei überwiegend auf unterstützende Reaktionen. Eine polizeiliche Anzeige erstattete nur etwa jede zehnte betroffene Person. Diejenigen, die einen persönlichen Kontakt mit der Polizei hatten, empfanden das Verhalten der Polizei dabei mehrheitlich als unterstützend und respektvoll. Ansprechpersonen bei der Polizei sowie zivilgesellschaftliche Melde- und Beratungsstellen verfügen über eine recht gute Bekanntheit, jede fünfte befragte Bi+-Person hat schon einmal einen Vorfall an die Berliner Register gemeldet.
- Viele von Übergriffen betroffene Bi+-Personen teilen ihre Erfahrungen im Freundeskreis, mit der Familie und der Beziehungsperson. Das private Umfeld trägt insofern die Hauptlast bei der Bewältigung und Verarbeitung von Vorfällen. Weit überwiegend werden die Reaktionen des privaten Umfelds als sehr oder als überwiegend unterstützend erfahren (70,3 %).
- Neben dem privaten Umfeld sind vor allem Beratungsstellen wichtige Anlaufstellen. Ein Fünftel der Betroffenen (20,3 %) wendet sich nach Übergriffen an sie. Das sind doppelt so viele wie polizeilich anzeigen.
- Den Weg einer polizeilichen Anzeige von LSBTIQ+- oder bi+-feindlichen Vorfällen geht ungefähr eine von zehn betroffenen Personen (9,4 %), ein noch kleiner Teil der Betroffenen (6,3 %) zeigt bei der Polizei an und teilt dabei zugleich die LSBTIQ+-feindlichen Hintergründe der Tat mit.
- Nicht alle Betroffenen treten bei der Anzeige persönlich mit der Polizei in Kontakt, ein Drittel gibt in der Befragung vielmehr an, die Anzeige online erstattet zu haben.
- Die wenigen Personen, die überhaupt reale Erfahrungen mit einem polizeilichen Gegenüber machen, bewerten diese als unterstützend und respektvoll, keineswegs als unfreundlich oder gar diskriminierend. Wo LSBTIQ+-feindliche Hintergründe der Tat bei der Anzeige mitgeteilt wurden, wurde sie auch aufgenommen und anerkannt.
- Anzeige wird nicht nur erstattet, um im eigenen Interesse eine Ermittlung einzuleiten, sondern auch, um Taten öffentlich zu machen. Abgesehen wird von einer Anzeige insbesondere deshalb, weil nur moderate Erwartungen hinsichtlich polizeilicher Ermittlungsanstrengungen oder -erfolge bestehen, oder auch, weil Vorfälle selbst als nicht wichtig genug oder strafbar bewertet werden.
- Sowohl die LSBTIQ+ Ansprechpersonen als auch ein Teil der Berliner Fachberatungsstellen verfügen über eine gute Bekanntheit unter den befragten Bi+-Personen. Selbst die bekanntesten Anlaufstellen sind allerdings nur maximal der Hälfte der Befragten bekannt. Bi+-Personen besitzen insofern deutlich geringere Kenntnisse hinsichtlich bestehender Beratungs- und Unterstützungsangebote als in früheren Erhebungswellen dieses Monitorings befragte Personen, beispielsweise trans* Personen in Berlin.
- Ein hoher Bekanntheitsgrad von Beratungsstellen ist nicht gleichbedeutend mit der tatsächlichen Meldung eines Vorfalls. Viele Befragte haben bereits Vorfälle an die Berliner Register gemeldet (20,3 %). Unter den eigentlichen Beratungsstellen wurden insbesondere Maneo und der Sonntagsclub oft angesprochen.
Ist Berlin die Regenbogenhauptstadt eines Regenbogenlandes? LSBTIQ+-Feindlichkeit in Deutschland im europäischen Vergleich
Die Agentur für Grundrechte der Europäischen Union leistet wichtige Beiträge zur datenbasierten Beobachtung queerfeindlicher Diskriminierung und Gewalt. An der dritten Wellen ihres LGBTIQ-Survey haben sich im Jahr 2023 fast 100.000 Personen beteiligt. Der Survey zeigt, dass LGBTIQ in Deutschland oftmals offener leben können als in anderen Teilen der Europäischen Union. Diskriminierungserfahrungen sind in Deutschland dennoch ähnlich verbreitet wie in der EU, haben sich in den letzten Jahren aber rückläufig entwickelt – wie auch in der EU. Der LGBTIQ-Survey der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte wurde mittlerweile zum dritten Mal umgesetzt. Die letzte Erhebungswelle wurde im Jahr 2023 durchgeführt. Aus den Mitgliedstaaten der EU haben sich fast 100.000 Personen an der Erhebung beteiligt.
- Die EU-weite Anlage der Befragung erlaubt datenbasierte Vergleiche der Situation in Deutschland mit anderen EU-Ländern sowie mit dem EU-Durchschnitt.
- Die Offenheit des Lebens als LGBTIQ-Person ist in Deutschland aktuell deutlich stärker ausgeprägt als im EU-Durchschnitt. In Deutschland geben 60 % der Befragten an, weitgehend offen zu leben, im EU-Durchschnitt sind das nur 51 %.
- Diskriminierungserfahrungen aufgrund des LGBTIQ-Seins sind in Deutschland ähnlich weit verbreitet wie im EU-Durchschnitt. 2023 haben jeweils über ein Drittel der Befragten (D: 38 %, EU: 37 %) angegeben, innerhalb des letzten Jahres vor der Befragung mindestens in einem Lebensbereich Diskriminierungserfahrungen gemacht zu haben.
- Diskriminierungserfahrungen haben sich in den letzten Jahren sowohl im EU-Durchschnitt als auch in Deutschland rückläufig entwickelt – und zwar in ähnlichem Umfang. Während 2019 44 % der Befragten aus Deutschland solche Erfahrungen angegeben haben, waren es 2023 noch 37 %.
LGBTIQ in Deutschland geben etwas häufiger als in der EU Erfahrungen von Belästigung und Gewalt an. Solche Erfahrungen haben im Vergleich zur letzten Surveywelle im Jahr 2019 außerdem zugenommen und sich ausgebreitet. Besonders auffällig sind die negativen Erfahrungen mit Mobbing, Bedrohung und Verletzung im Schulwesen, von denen nach starken Zuwächsen derzeit 70 % der Befragten berichten.
- Erfahrungen von Belästigung und Gewalt aufgrund von LGBTIQ-Sein geben Befragte aus Deutschland etwas häufiger an als im EU-Durchschnitt. Die Unterschiede sind dabei moderat ausgeprägt. Über die Hälfte der Befragten haben jeweils Belästigungen innerhalb des letzten Jahres angegeben (D: 57 %, EU: 54 %). Deutlich mehr als jeder zehnte Befragte gibt an, innerhalb der letzten fünf Jahre aufgrund von LGBTIQ-Sein physisch oder sexuell angegriffen worden zu sein (D: 16 %, EU: 13 %).
- Im Kontrast zur rückläufigen Erfahrung von Diskriminierung haben sich Erfahrungen von Belästigung und Gewalt in den letzten Jahren ausgebreitet – in Deutschland ebenso wie im EU-Durchschnitt. In Deutschland lässt sich diesbezüglich rechnerisch eine Zunahme in Höhe von 23,1 % im Zeitraum von 2019 bis 2023 ausmachen.
- Besonders auffällig stellt sich in Deutschland und im EU-Durchschnitt derzeit der Schulbereich dar. Erfahrungen von Mobbing, Bedrohung und Verletzung sind hier nicht nur aktuell sehr stark verbreitet, sie haben in den letzten Jahren auch ausnehmend deutlich zugenommen. Über zwei Drittel der Befragten (D: 70 %, EU: 67 %) geben im Jahr 2023 entsprechende negative Erfahrungen an.
- In Absprache mit dem Landeskriminalamt Berlin ist ein verändertes Abfragesystems vorgenommen worden, dass die tatsächliche Anzahl von erfassten Vorfällen ohne Mehrfachzählungen durch Themenfeldnennungen wiederspiegelt. Die Fallzahlen im Monitoring weichen deshalb in Teilen gegenüber Veröffentlichungen durch die Polizei Berlin ab. ↩︎